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50 Jahre Kraftwerk Autobahn

Tassilo Eichler - 2024/12/10

Es sind die Siebziger-Jahre. In der Bundesrepublik herrscht über weite Strecken noch die Biederkeit eines Nachkriegsdeutschlands. Viele Familien wohnen in schmucklosen Mietskasernen, mit grobem Teppich, Schrankwand und schwerem Sitzmobilar. Die deutschsprachigen Hitparaden werden von gefühligem Schlager dominiert: Chris Roberts stellt fest „Du kannst nicht immer 17 sein“. Und Vicky Leandros fährt mit Theo nach Lodz.

Doch ein kleiner Kreis von Vordenkern arbeitet international an der Zukunft. 1972 findet die Olympiade in München in einem noch heute futuristisch anmutenden Architekturensemble statt, 1976 gründen Steve Jobs und Steve Wozniak Apple und 1977 kommt der erste Star Wars in die Kinos. Dieser Geist der Erneuerung treibt vor 50 Jahren auch eine ambitionierte deutsche Band namens Kraftwerk um und sie veröffentlicht 1974 ihr viertes Album: „Autobahn“. Es ist geprägt von meditativen, gleichförmigen Rhythmen, elektronischen Instrumenten, nüchternem Gesang und synthetisch erzeugten, roboterhaften Vocoder-Stimmen. Kraftwerk setzen dem vorherrschenden, angestaubten deutschen Liedgut ihre Vision der Zukunft entgegen. „Autobahn“ gilt als das weltweit erste, umfassende Elektropop-Album und wird damit vermutlich zum bis heute wichtigsten deutschen Pop-Album überhaupt. Der das Album dominierende gleichnamige Titelsong nimmt die Hörenden auf eine gut 20-minütige Reise. Es ist kein schneller Song. Aber gerade deshalb trifft er das Gefühl auf der Autobahn bei entspannter Reisegeschwindigkeit die Landschaft sanft an sich vorbeiziehen zu sehen sehr genau. Das Album ist ein internationaler Erfolg und steigt sogar bis zum vierten und fünften Platz der englischen und amerikanischen Charts auf. Kraftwerk legen damit den Grundstein ihrer einflussreichen Karriere, die die Entwicklung der weltweiten Popmusik maßgeblich beeinflussen wird:

Afrika Bambaataa setzt wenig später auf einem der allerersten Rap-Alben den maschinellen Beat von Kraftwerks „Trans Europa Express“ ein. David Bowie widmet die B-Seite seiner bekannten Single „Heroes“ Kraftwerk-Gründer Florian mit dem Stück „V2 Schneider“. Technopioniere wie Jeff Mills und Derrick May nennen die Band als eine ihrer Hauptinspirationsquellen. Und der berühmte Produzent, Sänger, Rapper und Modeschöpfer Pharrell Williams beschreibt Kraftwerk im GQ-Interview mit Produzenten-Legende Rick Rubin sogar als seine erste Begegnung mit Hip-Hop. (— und lässt es sich 2021 dann auch nicht nehmen die Laudatio zu ihrer Aufnahme in die „Rock ‚n‘ Roll Hall of Fame“ zu halten.)

Kraftwerk zeigen durch ihren fast ausschließlichen Einsatz von elektronischen Musikinstrumenten wie Synthesizern, Sequenzern und Drumcomputern bewusst den unaufhaltsamen Fortschritt der Technik auf — und machen mit ihren präzisen, elektronischen Beats deutsche Ingenieurskunst sexy.

Dabei sind sie in ihrer Sprache nicht weniger exakt:

„Die Fahrbahn ist ein graues Band, weiße Streifen, grüner Rand“ (Kraftwerk: Autobahn, 1974)

In einfachen aber treffenden Worten beschreiben sie in ihren Songs schon sehr früh die Wahrheiten unserer modernen Zeit.

„Finanzamt und das BKA, haben unsere Daten da“ (Kraftwerk: Computerwelt, 1981)

Sie erscheinen darüber zugleich fasziniert wie wehmütig. Es ist eine Mischung aus Zukunftsoptimismus und Nostalgie — die Kraftwerk-Poesie.

Schon auf „Autobahn“ beschreiben sie die zunehmende Symbiose von Technik und humaner Spezies. Auf ihrem 1978 erscheinenden Album „Die Mensch-Maschine“ sprechen sie es dann aus: „Wir sind die Roboter“ — und schicken daraufhin eine Zeit lang auch nur noch solche zu ihren Konzerten und Interviews. Zusammen mit ihren retrofuturistischen 3D-Videoinstallationen avancieren sie damit endgültig zum Gesamtkunstwerk.

Folgerichtig werden sie als solches dann 2012 auch im berühmtesten Museum für moderne Kunst ausgestellt: dem MOMA in New York. Seitdem spielen Kraftwerk regelmäßig in den bedeutendsten Museen der Welt auf acht hintereinander folgenden Abenden umfangreich inszenierte Retrospektiven ihrer zentralen acht Alben. Man kann bedauern, dass sie dabei die drei ebenfalls gelungenen Alben ihres krautrockigen Frühwerks verleugnen. Aber sie haben sich entschieden: Kraftwerk sind eine Elektroband. Und so beginnt jede ihrer Reihen konsequenterweise mit ihrer auf Tonband verewigten Elektropop-Hommage an das lange graue Band: „Autobahn“.

written by our dear Tassilo Eichler.
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