Tame Impala "Borderline" - oder: das Kunstwerk im Zeitalter seiner ständigen Veränderbarkeit
Tame lmpala, die gelungene Neo-Hippie-One-Man-Show-Band des Australiers Kevin Parker, hat Anfang des Jahres ihr lang erwartetes viertes Studioalbum „The Slow Rush“ veröffentlicht. Es strahlt ein gleichermaßen melancholisches wie sonnendurchflutetes 70er Jahre Flair aus und ist von Yacht-Rock und elektrischen Supertramp-Pianos inspiriert. Es klingt nach einem besseren und stilvolleren L.A. vergangener Tage, das es so vermutlich nie gegeben hat. Aber auch Parker selbst hat seiner Sehnsucht danach inzwischen nachgegeben und ist in die Hollywood Hills gezogen.
Um uns die Wartezeit auf das Album zu verkürzen, haben Tame Impala bereits vergangenes Jahr drei Vorabsingles herausgebracht. Für die Veröffentlichung auf dem Album wurde die Single „Borderline“ allerdings noch einmal stark überarbeitet. Unter anderem fehlt Parkers mystischer Ruf zur Eröffnung des Songs und das Schlagzeug klingt deutlich härter. Eine weitere Lead-Melodie wurde hinzugefügt und eine sehr verspielte G-Funk Synthie-Baseline drängt sich jetzt in den Vordergrund. Und zum Schluss verändert Parker sogar noch seine ursprünglichen Lyrics und führt den Song statt zu einem kontemplativ offenen doch zu einem sehr versöhnlich-ausgeglichenen Ende. Und: leider gefällt mir der Song nun lange nicht mehr so gut. Seine Leichtigkeit und etwas verlorene Eleganz sind ihm durch das neue Arrangement irgendwie abhanden gekommen. Ok, soweit, so unbesonders. Überarbeitungen für spätere Albumversionen gab es auch schon vorher. Aber bei Tame Impalas „Borderline“ gibt es einen entscheidenden Unterschied.
In seinem berühmten Aufsatz „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ beschreibt Walter Benjamin 1935 den Verlust der Aura eines Kunstwerks durch seine technische Vervielfältigung, etwa wenn Drucke davon erstellt werden. Eine solche Vervielfältigung geschieht natürlich auch beim Pressen einer Musikaufnahme auf Tonträger oder der Verbreitung von Song-Files. So einzigartig wie beispielsweise ein Live-Konzert ist die Aufnahme damit natürlich nicht mehr. Das “Hier und Jetzt” eines Kunstwerks, das nach Benjamin notwendig für seine Aura ist, wäre damit schon verloren. Dennoch hören die allermeisten Leute Musik heutzutage ja hauptsächlich in Form von Aufnahmen und scheinen dies sehr zu genießen. Der bloße Akt der technischen Vervielfältigung schmälert den Genuss einer Musikaufnahme für die meisten Leute heutzutage also wohl kaum noch.
Aber Tame Impala fügen der Frage nach der Bedeutung von technischer Reproduktion eines Kunstwerks mit „Borderline“ noch eine ganz neue Dimension hinzu. Denn ihre vorab veröffentlichte Single-Version des Songs existiert einfach nicht mehr — oder präziser, sie wurde einfach gleich mit verändert.
Streaming macht heutzutage 80% des Musikvertriebs aus und stellt damit den modernen Standard dar, wie Musik gehört wird. Die Single „Borderline“ wurde konsequenterweise auch überhaupt nicht mehr auf einem physischen Tonträger veröffentlicht. Einen Song seiner Single-Sammlung hinzufügen bedeutet deshalb heute typischerweise nichts anderes mehr als ihn auf eine seiner Playlists zu setzen. Dort hört man ihn dann mal mehr, mal weniger aufmerksam oder wird im besten Fall zum richtigen Fan. Und ich wurde ein großer Fan von Tame Impalas „Borderline“. Um genau zu sein, war es für mich nicht weniger als der beste Song des Jahres. Und ich habe die Single „Borderline“ rauf und runter gehört. Doch - und das ist Punkt - das kann ich jetzt nicht mehr. Denn Tame Impala haben nicht nur die Albumversion von „Borderline“ überarbeitet, sondern einfach auch meine geliebte Single-Variante dadurch ersetzt. Wenn ich den Song jetzt von meiner 2019er Playlist aus aufrufe, erklingt nämlich auch nicht mehr die Single-Version, sondern nur noch die überarbeitete Variante des Albums.
Ich vermisse die ursprüngliche Version des Songs und ich bin damit nicht alleine. Inzwischen gibt es sogar eine Petition auf der Kampagnen-Plattform Campact, die Tame Impala dazu auffordert, die Single-Variante von „Borderline“ wiederherzustellen. Natürlich kursieren immer irgendwo noch irgendwelche Rip-Offs oder Bootlegs eines Tracks und so natürlich auch von der Single „Borderline“. Aber auf offiziellem Wege habe ich auf die ursprüngliche Variante keinen Zugriff mehr. Und das, obwohl ich sie mir ganz offiziell und legal zugelegt hatte. Es geht mir hier nicht um die Frage des Eigentums. Das halte ich als Streaming-Nutzer an dem Song ja so nicht. Aber ich hatte das Werk nach der der aktuell allgemein üblichen Methode bereits in meinen Hausstand überführt. Und dennoch wurde es vom Künstler im Nachhinein und ohne meine Zustimmung verändert. Aus Sicht des Rezipienten ist das in etwa so, als würde ein vormals blaudominiertes Bild, das ich mir meinetwegen nur von einer Galerie geliehen aber schon zu Hause an die Wand gehängt und schätzen gelernt hatte, plötzlich vor allem in Rottönen erstrahlen und es wären unverhofft ein paar Figuren hinzugekommen. Die Erscheinung und Bedeutung des Bildes wären also einfach ohne mein Wissen und Zustimmung vom Künstler quasi über Nacht verändert worden. Und das fügt der Frage nach dem Originalcharakter und der Aura eines Werks dann doch noch einen ganz neuen Aspekt hinzu.
Natürlich, auch der bekannte Street Art Künstler Banksy hat sein Bild „Girl with Balloon“ im Nachhinein verändert, indem er es direkt nach dem letzten Hammerschlag der Auktion sogar sich selbst zerschreddern ließ. Ein gelungener Coup, keine Frage. Und der neue Besitzer war davon womöglich auch einigermaßen überrascht. Die Aktion war aber doch eher dazu gedacht zu verdeutlichen, dass man einen Street Art Banksy eben nicht so einfach besitzen kann. Sie diente weniger dazu, das Werk im Nachhinein konstruktiv und gestalterisch, aber heimlich zu verändern.
Tame Impala aber machen genau das. Sie gestalten ihr Werk auch nach seiner Veräußerung und ohne weitere Zustimmung des Sammlers einfach neu. Parker sagt in einem Interview mit dem NME dazu, er habe erst mit einem gewissen zeitlichen Abstand gehört, dass die Aufnahme gar nicht so klingt wie er sie sich vorgestellt hatte. Das ist absolut verständlich. Und ich will diese Vorgehensweise auch gar nicht grundsätzlich verurteilen. Aber es stellt sich doch die Frage, was das generell für die Kunst bedeutet. Mir ist ein entsprechendes Modell noch nicht bekannt, aber es wäre natürlich auch leicht denkbar, ein Bild nicht mehr auf Leinwand zu malen und physisch auszuliefern, sondern es stattdessen auch nur noch auf den Bildschirm eines Sammlers zu streamen. Auch dieses Bild könnte der Künstler dann jederzeit im Nachhinein nach Belieben verändern. Was aber bedeutet das für das Kunstwerk und für die Aussage eines Künstlers, wenn er es auch nach seiner Veräußerung jederzeit wieder verändern kann? Wenn er es jederzeit dem aktuellen Zeitgeist oder sich eventuell verändernden politischen Strömungen anpassen kann? Ja wenn es ihm sogar möglich ist, seinen ursprünglich darin eingenommenen Standpunkt im Nachhinein komplett zu revidieren? Können Kunstwerke dann noch Zeitdokumente sein? Können sie überhaupt noch längerfristig gültige Aussagen treffen? Und was bedeutet das für ihre Aura, wie Walter Benjamin sie beschreibt?
Technische Veränderungen haben die Kunst immer beeinflusst. Und ich stehe auch dieser erst einmal offen und interessiert gegenüber. Aber für mich markiert Tame Impalas Veröffentlichung des Songs „Borderline“ doch einen Paradigmenwechsel, eben: „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner ständigen Veränderbarkeit“. Wir dürfen also gespannt sein, was da noch kommt.